„Ich zuerst“
Man hat das Gefühl, die Welt eiert so vor sich hin – ist
aus dem Gleichgewicht geraten: Geo- und
wirtschaftspolitisch. Gleichzeitig muss man sich die Frage stellen
„was ist die Ursache und was die Folge“? Wir haben es immer wieder
geschrieben, dass politische Börsen mittlerweile in der Umkehr der
alten Regel lange Beine haben.
Wenn wir ehrlich sind, haben wir spätesten seit dem
Ausbruch der weltweiten Finanzkrise 2008 mit politischen Börsen
„zu kämpfen“. Das bedeutet seit rund 16 Jahren. Eingriffe der
Notenbanken haben den realen Anleihenmarkt zum Erliegen gebracht.
Das Junktim „wir kaufen alles“ schaffte es zwar den Weltuntergang
zu verhindern, aber Jedem, der sich ein bisschen mit dem Thema
Wirtschaft beschäftigt hat, war klar, dass eine weiche Landung
eingeleitet werden musste, um einen weiteren „Gong“ zu verhindern.
Seit 2015 hat sich die Anzahl der industriepolitischen Eingriffe
der Regierungen in den G7-Staaten weiter vervielfacht. Immer mit
dem Ziel, Preise, Investitionen und Marktentwicklungen zu
„korrigieren“, die nicht den politischen oder gesellschaftlichen
Gedanken entsprochen haben.
Es wurde weltweit noch mehr Geld in den Markt gepumpt. Um die
Wirtschaft zu stimulieren, wurden Förderprogramme von
den Regierungen aufgelegt. Banken, Unternehmen und Privatpersonen
hatten ihr Geld zu investieren. Negativzinsen auf „große Vermögen“
waren selbst bei den kleinsten Sparkassen am Tegernsee auf einmal
ein wichtiges Thema. Zusätzlich sind die Förderungen während der
Covid-19-Pandemie noch weiter ausgebaut werden, um
Insolvenzen zu verhindern, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und die
Krankenversorgung zu unterstützen. Gastronomie und Hotellerie waren
genauso betroffen wie die Automobilindustrie, die aufgrund der
Homeoffice-Regelungen keine Autos mehr verkauften – noch nicht
einmal mehr an Vermietungen. Dagegen erlebte der
Börsenhandel eine Sonderkonjunktur. Die Menschen
saßen zu Hause und hatten auf einmal Zeit und Muße sich mit ihren
Anlagen zu beschäftigen; Gelder, die ja auf dem Konto sowieso keine
Rendite brachten.
Aber dann kam der Gong. Man kannte das Wort gar nicht
mehr: Inflation. War es nicht so, dass die EZB in Europa
eine Inflation von zwei Prozent angestrebt hatte und auf einmal war
sie auf fast drei Prozent und bekam auch noch einen geopolitischen
Kriegsturbo eingebaut, der sie teilweise in vorher unvorstellbare
und astronomische Höhen katapultierte. Weltweit haben die
Notenbanken reagiert und die Zinsen erhöht. Gleichzeitig wurden
Förderprogramme reduziert. Eine Situation, die für viele Menschen
neu war. Eine ganze Generation hatte sich oft nicht mehr für das
Eigenheim krummlegen müssen, sondern konnte sich weiterhin teure
Familienurlaube leisten.
Bei der Wahl zum Europaparlament und dem Ergebnis sieht man die
nächste Krux. Brüssel vergibt die meisten Subventionen und
schon geht das große Geschachere los. Posten müssen neu vergeben
werden. Was bekomme ich dafür? Subventionen oder auch einen Posten,
der beinhaltet, dass ich meinem Land etwas Gutes tun kann. Eine
Karikatur fasst es gut zusammen: Es stehen alle Ländervertreter in
einem Auditorium und jeder hält ein Schild hoch, auf dem steht in
Ableitung von Donald Trumps „America First“ „Ich zuerst“.
Gerade in Europa stockt doch der Prozess der tieferen Integration
seit vielen Jahren, ja Dekaden. Wobei er dringend notwendig wäre.
Nur mangelt es diesem „Europa“ zunehmend an Akzeptanz, denn
anstatt einer vor langer Zeit mal dominanten europäischen Vision
haben wir einen Proporz- und Verwaltungsmoloch geschaffen,
der jegliche Versuche zum Bürokratieabbau in den Staaten im Keim
erstickt.
Und das mit einer geringen demokratischen Legitimation. Auf die
erforderlichen Mehrheiten in den einzelnen Staaten, die
erforderlich wären, um unter Aufgabe nationalstaatlicher
Hoheitsrechte eine europäische Union sinnvoll weiterzuentwickeln
braucht man unter den vorherrschenden Umständen nicht zu hoffen.
Und es ist wie es immer ist: „was sich nicht vorwärtsentwickelt,
entwickelt sich rückwärts“. Und die bei den jüngsten Wahlen
vielerorts triumphierenden EU-Gegner beweisen das. Wir sind
gespannt, wie weit der Frust über die vermurkste Struktur Wähler
und Politik noch treibt. Wer wissen will, wo die Gefahren lauern,
blickt einmal kritisch über den Ärmelkanal.
Das dieses Europa unter diesen Vorzeichen auch keine
planbare und verlässliche Politik mehr abliefert, kann man
vielleicht bereits in Kürze sehen. So kann es gut sein, dass das
Aus des Verbrenners 2035 doch noch einmal aufgeweicht wird, um eine
Mehrheit für Ursula von der Leyen zu schaffen.
Auch weltweit sehen wir das „Ich zuerst“ ebenfalls. Der
amerikanische Präsident Joe Biden, auch getrieben durch die
anstehende Präsidentenwahl, hat sich als Macher darstellen wollen,
indem er Strafzölle von 100 Prozent auf chinesische
Elektroautos erhebt, weil diese von der chinesischen Regierung
„ungebührlich“ subventioniert werden. Damit wird der Markt für
China stark eingeschränkt und die EU geht davon aus, dass die
preiswerten chinesischen Elektroautos nun verstärkt nach Europa
verschifft werden. Um dies zu verhindern und um die Vorteile der
chinesischen Subventionen auszugleichen plant die EU nun auch
höhere Zölle. China wird als Folge auf amerikanische und
europäische Autos ebenfalls Strafzölle einführen. Hier zeigt sich
das innereuropäische „Ich zuerst“ ebenfalls. Von diesen
Zöllen wären die deutschen Premiumhersteller Mercedes und BMW
besonders betroffen. Das hat direkte Auswirkungen auf den
Aktienkurs der beiden Hersteller. Gleichzeitig würden die
französischen Autobauer, allen voran Renault, von europäischen
Zöllen am meisten profitieren. Deswegen vermutet die deutsche
Autoindustrie die französischen Hersteller als Drahtzieher hinter
der Strafzoll-Initiative. Es handelt sich hier wohl um
knallharte französische Interessenpolitik.
Es wird auf politisches Geheiß der freie Handel und die
Globalisierung stark beschränkt. Grenzen werden wieder
hochgefahren – Liberalisierungen aufgehoben. Weltweit „Ich
zuerst“ erklärt auch den Rechtsruck in den politischen Systemen
– und – bitte beachten: Politische Börsen haben in diesem Umfeld
keine kurzen Beine.
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